From Christopher Wimmer, in WOZ 01/12/2022
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Die Nato schweigt noch immer zum völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei gegen Nordostsyrien. Dabei spricht Präsident Recep Tayyip Erdoğan offen über geplante ethnische Säuberungen.
«Klauenschwert» heisst der Einsatz. Seit knapp zwei Wochen greift die Türkei mit Artillerie und Luftschlägen Rojava – die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens – sowie weitere Gebiete in Syrien, etwa um Aleppo, und Teile des Nordiraks an. Überall dort vermutet Ankara Stellungen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Der türkische Staat beschuldigt die PKK, am 13. November einen Bombenanschlag in Istanbul verübt zu haben, bei dem sechs Menschen getötet wurden. Doch sowohl die PKK als auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), der Militärverband des Autonomiegebiets in Nord- und Ostsyrien, wiesen plausibel jegliche Verantwortung für den Anschlag zurück.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Grossbritannien wurden bei den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei bislang mindestens 67 Menschen getötet. Sie richteten sich bisher nicht in erster Linie gegen militärische Ziele, sondern haben schwere Schäden an der Infrastruktur der Region verursacht. Schulen, Krankenhäuser, Öl- und Gasfelder sowie Elektrizitätswerke seien gezielt zerstört worden, sagt Nesrin Abdullah, Sprecherin und Kommandantin der kurdisch dominierten Frauenverteidigungseinheiten YPJ. Seit Tagen sei etwa die Stromzufuhr für die Grossstadt Kamischli unterbrochen. «Die Angriffe zielen darauf ab, die Lebensgrundlage der Bevölkerung langfristig zu zerstören. Zudem werden speziell Kleinstädte und Dörfer bombardiert. Das Ziel ist es, die Bevölkerung zur Flucht zu bewegen und Angst zu verbreiten», so Abdullah weiter.
«Für Kurden nicht geeignet»
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigt bereits seit Monaten immer wieder eine Bodenoffensive gegen das Autonomiegebiet an. Er will dort eine dreissig Kilometer breite «Sicherheitszone» auf der syrischen Seite entlang der türkischen Grenze errichten. Für das Projekt Rojava würde dies das Ende und für die dort lebenden Kurd:innen Vertreibung bedeuten. In einem Fernsehinterview sprach Erdoğan offen über seine Pläne einer ethnischen Säuberung Nordsyriens. Er sagte: «Araber können dort am besten leben. Die Region ist für den Lebensstil der Kurden nicht geeignet, weil es Wüsten sind.»
Bislang hat Ankara jedoch weder von den USA noch von Russland, die den Luftraum in Nord- und Ostsyrien beherrschen und dort Truppen stationiert haben, grünes Licht für eine Offensive bekommen. Die intensivierten Luftangriffe der letzten Wochen deuten nun jedoch auf eine Einigung hin. Lokalen Quellen zufolge haben sich Moskau und Ankara auf eine «begrenzte Offensive» um die Städte Manbidsch, Kobane und Tall Rifaat verständigt. Insbesondere die Stadt Kobane wurde zu einem Symbol des kurdischen Widerstands gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS), der dort 2015 seine erste militärische Niederlage erfahren musste. Xelil Osman, der als Kämpfer bei der Verteidigung Kobanes einen Fuss verloren hat und noch immer in der Stadt lebt, ist auch heute noch entschlossen: «Wir werden unsere Heimat verteidigen. Egal, ob Erdoğan oder wer auch immer hierherkommt, wir werden unsere Heimat niemals verlassen.»
In erhöhter Alarmbereitschaft
Auch Maslum Abdi, Generalkommandeur der SDF, geht von einer Bodenoffensive gegen Kobane aus. Die Vorbereitungen zur Verteidigung seien intensiviert worden, sagt er. Aufgrund der jüngsten türkischen Angriffe hätten die SDF nach Angaben ihres Kommandeurs jedoch ihre Aktivitäten gegen den vor Ort immer noch aktiven IS einstellen müssen. Zehntausende IS-Terroristen und deren Familienangehörige werden von den lokalen Kräften in Nord- und Ostsyrien in Camps und Gefängnissen festgehalten.
«Es wird schwierig werden, all diese IS-Anhängerinnen und -Anhänger zu bewachen, während die Türkei gegen uns und die Bevölkerung hier Krieg führt», sagt auch Rozerîn Hoffman. Die 23-jährige Zürcherin, die sich als Internationalistin den Frauenverteidigungseinheiten YPJ angeschlossen hat, heisst mit bürgerlichem Namen eigentlich anders. Hoffman ergänzt, dass ein Angriff der Türkei nicht nur für Rojava, sondern für die gesamte Welt eine Katastrophe bedeuten würde: «Jedem muss klar sein: Wer die Türkei hier gewähren lässt, ist mitverantwortlich dafür, dass der IS wiedererstarken wird.» Die SDF sowie die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten sind seit den letzten Tagen in erhöhter Alarmbereitschaft: «Wir sind gut ausgebildet und darauf vorbereitet, im Falle einer Bodenoffensive die Bevölkerung und die selbstverwalteten Gebiete zu verteidigen. Als Internationalist:innen sind wir nicht nur hergekommen, um im Kriegsfall zu helfen. Wir messen diesem einzigartigen demokratischen Projekt eine historische Bedeutung zu, die wir mit allen Mitteln verteidigen werden», so Hoffman weiter.
Wirklich stoppen kann die Türkei jedoch wohl nur die Nato, deren Mitglied das Land seit 1952 ist. Die westliche Staatengemeinschaft und das Verteidigungsbündnis schweigen jedoch bislang weitgehend zu den Aggressionen. Laut Völkerrecht müssten sie die Angriffe der Türkei eindeutig verurteilen. Ihre Grundsätze – Frieden, Freiheit und Demokratie – gelten jedoch anscheinend nicht uneingeschränkt.