Türkische Bodenoffensive droht. Russland bereit zu Gesprächen mit USA
From Annuschka Eckhardt, in Junge Welt 30/11/2022
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Der Spagat muss gelingen. Bedroht von dschihadistischen Söldnern unter türkischer Flagge, die nur darauf warten, eine Bodenoffensive zu starten, türkischen Luftangriffen und Artilleriebeschuss ist die Demokratische Selbstverwaltung in Nordostsyrien auf den Schutz von Russland und den USA angewiesen. Die beiden Großmächte mit eigenen Truppen in Nordsyrien sind Garantiemächte eines im Herbst 2019 vereinbarten Waffenstillstands.
Der russische Syrien-Sondergesandte des Präsidenten, Alexander Lawrentjew, merkte in einem am Montag veröffentlichten Interview mit der russischen Nachrichtenagentur TASS an, dass der Kontakt zwischen den beiden Ländern im Hinblick auf Syrien »noch nicht sehr intensiv« sei, Russland aber durchaus zu einem Dialog mit den USA bereit wäre.
Die am 19. November von der türkischen Armee mit der Luftbombardierung von Nord- und Ostsyrien gestartete Großoffensive dauert mit starkem Artilleriebeschuss an. Die Luftangriffe seien »beispiellos in Bezug auf das Ausmaß der angegriffenen Ziele und die Entfernung der Angriffe von der türkischen Grenze, sowohl über dem von den USA als auch von Russland kontrollierten Luftraum«, sagte Samantha Teal von der Informationsplattform Rojava Information Center am Dienstag gegenüber jW. Gleichzeitig verstärkten die Türkei und die von ihr als Söldnertruppe geführte Syrische Nationalarmee ihren üblichen Beschuss von Dörfern in der Nähe der türkischen Grenze und der besetzten Gebiete.
Am Dienstag nachmittag waren 100 internationale Journalisten, darunter auch von jW, zu einer online Pressekonferenz mit dem Oberkommandierenden der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDK), Mazloum Abdi, eingeladen. »Die Türkei bereitet sich aktiv auf eine Bodenoffensive vor. Unsere Kräfte sind bereit zu reagieren um uns zu verteidigen«, so Abdi. Auf die Frage, welchen Schutz er von den Garantiemächten erwarte, reagierte er ausweichend: »Bis jetzt stimmen die Akteure Russland und USA der Antieskalationsvereinbarung von 2019 noch zu, die sowohl unseren Boden als auch unseren Luftraum beschützen sollte«.
Die Türkei greift gezielt Infrastruktur wie Krankenhäuser, Getreidespeicher, Ölfelder und Elektrizitätswerke an. Mehr als 243 Schulen sind aufgrund der erhöhten Gefahr geschlossen worden. »Am 23. November wurde das Gasverteilungszentrum bei Siwediye zerstört, was dazu führte, dass die gesamten Region Nord- und Ostsyrien ohne Gasversorgung ist«, sagte Ronahi Tolhildan von den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) am Dienstag gegenüber jW. »Vor allem jetzt im Winter stellt dies eine große Belastung für die Menschen dar, wie sollen sie ohne Gas und Strom kochen?«
Nicht nur zivile Ziele liegen im Fokus Ankaras. Die Angriffe der Türkei richten sich vorsätzlich auch auf Infrastruktur im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS). In den letzten Tagen wurden Gefängnisse, Stützpunkte der Anti-IS-Koalition und das Lager Al-Hol, in dem zehntausende IS-Anhänger interniert sind, attackiert. Die Demokratische Selbstverwaltung bewacht in Lagern und Gefängnissen rund 12.000 IS-Kämpfer sowie mehr als 70.000 Familienmitglieder, darunter Tausende aus dem Ausland. Schon in der vergangenen Woche mussten die Selbstverteidigungseinheiten ihre laufenden Anti-IS-Operationen wegen der türkischen Angriffe einstellen. Die USA, selbsternannte Führungsmacht der internationalen Anti-IS-Koalition, greifen nicht ein. »Wir können in den Gefängnissen und Lagern unter diesen Bedingungen nicht das gleiche Sicherheitsniveau bieten, wie zuvor. Unser Selbstschutz hat Vorrang«, erklärte Abdi bei der Pressekonferenz.